Klimakrise stürzt Madagaskar in Hungerkatastrophe

From Jason

Climate crisis plunges Madagascar into famine | (wochenendrebell.de)


 

Schon bevor der Sommer richtig beginnt, ist klar: 2021 wird ein verheerendes Jahr für das Weltklima. Im Frühjahr bescherten der instabile Polarwirbel und die grönländische Eisschmelze den Europäer*innen heftige Schneefälle, nun ächzt Nordamerika unter den Folgen einer historischen Hitzewelle mit akutem Wassermangel, während der IPCC ein noch düstereres Bild der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts zeichnet. Am katastrophalsten schlägt die Klimakrise aber aktuell in Madagaskar zu.

Bevor ich beginne: Eine Hungerkatastrophe ist grundsätzlich eine ziemlich grausame Sache. Ich weiß, was solche Berichte bei detaillierter Beschäftigung mit ihnen auslösen können und frustrierte Resignation ist das Letze, was wir gebrauchen können, um dieser Katastrophe etwas entgegenzusetzen – deshalb sei an dieser Stelle gewarnt: In diesem Artikel wird die verheerende Situation in Madagaskar geschildert, es geht um die Zusammenhänge zur Kolonialherrschaft und zur Klimakrise und um furchterregende Zahlen und Prognosen. Dennoch bin ich der Meinung, dass das Thema jetzt sofort auf die Agenda muss.

Kolonialherrschaft: Der Anfang vom Ende

Die Republik Madagaskar ist ein Inselstaat vor der Ostküste Afrikas und liegt im Indischen Ozean. Sie ist mehr als eineinhalb Mal so groß wie Deutschland und wird von etwa 27 Millionen Menschen bevölkert. Madagaskar ist auf dem Papier eine Demokratie, doch viele Menschen können ihr Wahlrecht in der Praxis nicht wahrnehmen, es kommt zu Kinderarbeit, unrechtmäßigen Verhaftungen und unfairen Prozessen.

Noch bis ins Jahr 1960 war Madagaskar eine französische Kolonie und hier beginnen bereits die Zusammenhänge mit der dort nun herrschenden Hungerkatastrophe: In einem selbst im Vergleich zu anderen Kolonien unfassbar brutalen zehnjährigen Eroberungskrieg unterwarf Frankreich die madagassische Bevölkerung: Amtierende Politiker*innen wurden hingerichtet oder ins Exil verbannt, ganze Dörfer wurden niedergebrannt und die dort lebenden Menschen auf grausame Weise getötet. Zwar wurden 70% der bis zur französischen Eroberung als Sklav*innen lebenden Menschen „befreit“, doch nicht wenige wurden anschließend als Kanonenfutter im ersten Weltkrieg missbraucht und zum Einsatz im Krieg gezwungen.

Französisches Propagandaposter

Doch das war noch nicht alles, die Insel wurde während der Besatzung auch in anderer Hinsicht völlig umgekrempelt: Die Kolonialmacht radierte ganze Landschaften aus, bzw. formte sie einfach nach ihren Bedürfnissen um. Als isolierte Insel verfügte Madagaskar lange über eine völlig einzigartige Vegetation, die es nirgends sonst auf der Welt gibt, doch ein großer Teil musste weichen, denn die Kolonialherren wollten dort Tabak, Wein, Kokos und andere Nutzpflanzen anbauen. Unter anderem diese Form der Landnutzung rächt sich heute – über 60 Jahre nach dem Ende der Kolonialherrschaft.

Wenn der Dipol nicht mehr funktioniert…

Denn es ist zu trocken – viel zu trocken. Und das nicht erst seit Kurzem. Von 2015 bis 2017 wurden Ost- und Südafrika von einer beispiellosen Dürrekatastrophe heimgesucht, einige Länder riefen den Ausnahmezustand aus, es kam zu wirtschaftlichen Einbußen und Stromausfällen. Mais wurde stellenweise innerhalb eines Jahres viermal teurer und die Folge war extremer Hunger. Damals als Ursache angegeben: Ein starkes El-Niño-Ereignis und der sogenannte Warmwasser-Dipol im Indischen Ozean.

Der Warmwasser-Dipol bezeichnet das Phänomen, dass der Indische Ozean zwischen Ostafrika und Südostasien innerhalb einiger Jahre zwischen zwei Zuständen hin- und herpendelt. Im positiven Zustand ist das Wasser vor der Küste Afrikas wärmer als das vor Südostasien. Dadurch verdampft es leichter und verstärkt Winde, die Afrika üppigen Regen bescheren. Im negativen Zustand verhält es sich genau umgekehrt und dann wird es trockener in Afrika – das ist soweit ganz normal. In der Regel bietet dieses Pendeln aber genug Zeit für die Erholung zwischen zwei Trockenzuständen.

Die ursprünglichen zwei Zustände des Warmwasser-Dipols, links positiv und rechts negativ

Doch der Hauptgrund, aus dem die aktuelle Lage so katastrophal ist, hat seine Ursache ohne Zweifel in der menschengemachten Erderhitzung, denn der Warmwasser-Dipol funktioniert nicht mehr so wie er es mal tat – bzw. eigentlich tut er das sogar, aber die viel mächtigere Entwicklung der Globalen Erhitzung überlagert seinen Zyklus längst. Die Regenfälle über Afrika werden immer seltener und damit auch die Chancen zur Erholung von Dürren. Gleichzeitig werden diese Dürren aber immer stärker. So wurde die Ausnahmesituation von 2015 bis 2017 in Madagaskar schleichend zur Normalität. Für Südostasien bedeutet eine wärmere Welt hingegen stärkere Regenfälle.

Madagaskar ist durch seine geographische Lage, aber vor allem auch durch seine Geschichte, offensichtlich überdurchschnittlich stark von der Klimakrise betroffen – es gehört zu den sogenannten MAPA, den Most Affected People and Areas. Zum einen schrumpft der Wald auch heute noch durch Klimaveränderungen und gezielte Rodungen massiv, bis 2070 könnte Madagaskar sogar völlig waldfrei sein. Zum Anderen ist die Insel stark von tropischen Zyklonen betroffen, etwa Gafilo im Jahr 2004 und Indlala im Jahr 2007, die durch die Klimaerhitzung verschlimmert werden könnten.

Dies sind die Warming Stripes für Madagaskar von 1901 bis 2020.

Ed Hawkings (Université des lectures), https://showyourstripes.info/

Die seit Jahren schwelende Dürrekatastrophe eskaliert nun allerdings vollends, Madagaskar erlebt die schlimmste Dürre seit 40 Jahren, in einigen Landstrichen hat es seit drei Jahren kaum geregnet. Durch Sandstürme wurden außerdem viele Felder unfruchtbar, die Wüste rückt immer weiter vor – die Folge dieses sogenannten Sahel-Syndroms ist eine historische Fehlernte. Laut dem UN-Welternährungsprogramm habe es bereits hungerbedingte Todesfälle gegeben. Die Regierung rechnet mit Ernteeinbußen von mindestens 60% im Vergleich zu den vergangenen fünf Jahren im Süden Madagaskars.

„Familien leiden und es gibt bereits Menschen, die an akutem Hunger sterben – das ist nicht wegen eines Kriegs oder Konflikts, sondern wegen des Klimawandels“

David Beasley, Exekutivdirektor des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen (WFP)

Während Hitzewellen als häufige klimabedingte Todesursache vor allem Menschen mit einem Alter von über 60 Jahren und Vorerkrankten das Leben kosten (wie beispielsweise aktuell in Nordamerika), tötet die Klimakrise durch Hungerkatastrophen vor allem Kinder. Sie sind auch jetzt am stärksten betroffen, die wenigen vorhandenen Kliniken sind voll von Kindern und Kleinkindern unter fünf Jahren, die unter Mangelernährung leiden.

Waldflächen könnten die Dürren eindämmen und abmildern, denn Bäume speichern Wasser und erhöhen somit die Niederschlagsmenge in einer Region. Doch von diesen gibt es eben immer weniger, zum einen weil die Bestände während der europäischen Kolonialherrschaft (und auch danach) rücksichtslos vernichtet wurden, zum anderen weil Trockenheit als eine Folge der Entwaldung gleichzeitig eine ihrer Ursachen ist – ein extrem zerstörerischer Teufelskreis, der ganze Landstriche im wahrsten Sinne des Wortes verwüstet.

14.000 Menschen in akuter Lebensgefahr, 500.000 bedroht

Die Folgen dieser klimatischen Veränderung sind unfassbar furchtbar, auch wenn die Zahlen meist nicht zuverlässig erhoben werden und somit vorsichtig zu interpretieren sind (Stand Juni 2021).

1.350.000 (1,35 Millionen) Menschen sind von der Hungerkatastrophe betroffen und benötigen Hilfe.

500.000 (fünfhunderttausend) Menschen sind in den nächsten Monaten vom Tod durch Verhungern bedroht.

14.000 (vierzehntausend) Menschen befindet sich wegen Hungers aktuell in akuter Lebensgefahr.

Es droht ein regelrechtes Massensterben. Viele Menschen versuchen, in die Städte zu flüchten, in denen die Nahrungsmittelversorgung noch am ehesten aufrecht erhalten werden kann, doch einige sind bereits zu schwach dafür. Ältere wurden oftmals in Dörfern zurückgelassen, andere Menschen stopfen sich Blätter, Schlamm und Lehm in den Bauch und Kinder sind so ausgehungert, dass schlaffe Hautfalten an ihren Gliedmaßen zu sehen sind. Der Leiter des UN-Welternährungsprogramms, David Beasley, sprach von Szenen wie aus Horrorfilmen. 16,5% der Kinder unter fünf Jahren in Madagaskar leiden derzeit unter Mangelernährung, doppelt so viele wie vor vier Monaten.

Helfer*innen, die mit mobilen Kliniken unterwegs sind, erzählen von Begegnungen mit Müttern, die bereits mehrere Kinder in den letzten Monaten durch den Hunger verloren haben. Parallel zur Hungerkatastrophe ist derzeit außerdem Malaria in Madagaskar auf dem Vormarsch, auch ihre Ausbreitung wird durch die hohen Temperaturen begünstigt. Immer wieder kommt es zudem zu Ausbrüchen von Lepra, Masern oder sogar der Pest. Die Klimakrise gibt dieser Gesellschaft nun den Rest: In vielen Regionen sind kriminelle Banden aktiv, welche die Flucht durch Raubüberfälle noch erschweren.

Beitrag Madagaskars zur Klimakrise unterdurchschnittlich

Mit jährlichen Emissionen von 1,2 Tonnen CO2-Äquivalenten pro Person (also einem Ausstoß, dessen Treibhauswirkung der von 1,2 Tonnen CO2 entspricht) trägt Madagaskar kaum zur Erderhitzung bei, es überschreitet nicht einmal sein klimaverträgliches Jahresbudget. Schuld an der humanitären Katastrophe tragen daher vor allem die Industriestaaten, die durch den Ausstoß von Treibhausgasen die Durchschnittstemperatur der Erde in die Höhe treiben, wodurch in Afrika die Niederschläge ausbleiben. Gerecht ist das nicht.

Die Geschichte setzt sich auf wahrlich tragische Weise fort: Die Industriestaaten haben Madagaskar durch Ausbeutung während des Kolonialismus einst verwundbar für Dürren und Hungerkatastrophen gemacht und nun sind es erneut die Industriestaaten, die das Werk durch Untätigkeit gegenüber der Klimakrise vollenden. Die Motive sind völlig unterschiedlich, die Situationen nicht miteinander zu vergleichen. Lediglich die Folgen ähneln sich. Wo einst Sozialdarwinismus und Hass töteten, übernimmt nun Gleichgültigkeit.

Natürlich darf dieser menschengemachte Schrecken nicht instrumentalisiert werden, auch nicht für den laufenden Bundestagswahlkampf. Im Gegenzug muss aber regelrecht in aller Deutlichkeit darauf hingewiesen werden, dass die Klimakrise und damit die Politik der Industriestaaten ursächlich ist (und daran besteht kein Zweifel), wenn wir nicht wollen, dass es mal wieder bei „thoughts and prayers“ bleibt – wobei aktuell nicht einmal dafür die Aufmerksamkeit genügt.

Das Schlimmste kommt noch…

Die Hungerkatastrophe hat ihren Höhepunkt vermutlich noch nicht erreicht, mindestens bis zum Oktober ist nicht mit einer Entspannung der Dürre zu rechnen. Das Schlimmste liegt also noch vor den Menschen in Madagaskar. Und dabei ist nicht von 2050 oder 2030 die Rede – wenn nicht sofort Maßnahmen zur Eindämmung der Hungerkatastrophe getroffen werden, könnte sich die Zahl der kurz vor dem Hungertod stehenden Menschen bis zum Oktober verdoppelt haben. Eine halbe Million Menschen könnte in den nächsten Monaten vom Verhungern bedroht sein.

Es ist verständlich und völlig klar, dass uns allen unwohl wird, wenn wir Bilder von durch Tornados beschädigten Städten oder unter Wasser stehenden Plätzen sehen. Genauso klar ist, dass auch diese Phänomene ernsthafte Probleme sind und Menschenleben kosten. Aber rein zahlenmäßig – und ja, ich bin mir bewusst, dass die rein auf Zahlen basierende Betrachtung zu kurz greift – ist das alles nichts als ein Tropfen auf dem heißen Stein. Die zwei großen Killer im Kontext der Klimakatastrophe heißen Hungerkatastrophen und Epidemien.

Bremsen wir die Erhitzung nicht, wird 2090 ein Drittel der landwirtschaftlichen Flächen unbrauchbar sein, ein weiteres Drittel wäre gefährdet – viel übrig bleibt dann nicht. Hinzu kommt eine ungleiche Verteilung: Während einige Länder kaum Verlust einfahren oder durch wärmeres Klima sogar fruchtbare Flächen gewinnen, verlieren andere bis zu 95% ihrer landwirtschaftlich nutzbaren Fläche. Globale Fehlernten nie gekannten Ausmaßes werden die Folge sein. Klimaschützer*innen wird gelegentlich vorgeworfen, sie würden die Menschheit am liebsten zurück ins Mittelalter führen. Dabei ist es die aktuelle Politik, welche unsere Spezies in mittelalterliche Zustände mit Hungerkatastrophen, Seuchen und Konflikten katapultiert.

Schon weit früher als 2090, nämlich bis 2050, ist durch geringere Erträge mit einem Rückgang der globalen Nahrungsmittelproduktion zu rechnen, während die Nachfrage gleichzeitig um 14% pro Jahrzehnt steigen wird. Schon jetzt steigt die Zahl der unterernährten Menschen wieder von Jahr zu Jahr, nachdem sie seit Beginn des neuen Jahrtausends zunächst gesunken war. 2030 wird sie wieder höher liegen als 2005. Das Ziel, den Welthunger zu besiegen, rückt damit in weite Ferne. An den Zielen der Agenda 2030, zu denen unter anderem auch der Sieg über den Welthunger gehört, wird die Menschheit krachend scheitern.

Das schlägt sich auch in der Zahl der vorzeitigen Todesfälle wieder. Derzeit sterben weltweit pro Jahr etwa 315.000 Menschen direkt an den Folgen der Klimakrise, bis 2030 wird sich diese Zahl um weitere 250.000 pro Jahr erhöhen.

Die Klimakrise wird uns nicht den Gefallen tun, sich mit dem großen Knall zu melden. Wer meint, es würde schon gehandelt, sobald die Folgen offensichtlich genug seien, irrt. Wenn 14.000 zu Tode Gehungerte nicht genügen, dann wird so bald gar nichts genügen – nicht ohne mehr Druck seitens der Bevölkerung. Denn dass die Bevölkerung des globalen Nordens sich der enormen Anzahl vorzeitiger Tode durch die Erderhitzung nicht bewusst ist, beeinflusst auch die Klimapolitik. Könnte ein Peter Altmaier es sich noch leisten, Dinge wie „Klimaschutz wird nur dann funktionieren, wenn unser Wohlstand dadurch nicht gefährdet wird.“ zu sagen, wenn die Bevölkerung wüsste, wie grausam der Preis dieses Wohlstands ist? Falls ja, dann sind wir wahrhaftig verloren.

Mit Spenden alleine ist es nicht getan und wir brauchen auch keinen White Saviorism, in dem Glauben, der globale Norden könne seine Schuld einfach so begleichen. Aber wenn ihr wollt und könnt, dann spendet an seriöse Organisationen, welche versuchen, die Hungerkatastrophe in Madagaskar einzudämmen, beispielsweise die Welthungerhilfe oder  Madagascar FoundationAm wirksamsten bleibt es aber, die Ursache zu bekämpfen. Kämpft für Klimagerechtigkeit.


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